25. September 2024
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Seit der Entscheidung des BAG vom 8. September 2021 (5 AZR 149/21), mit der entschieden wurde, dass der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sein kann, wenn diese passgenau die Dauer der Kündigungsfrist abdecken, hat sich das Thema der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit und „Gefälligkeitsatteste“ zu einem absoluten Dauerbrenner entwickelt. Für Arbeitgeber lohnt es sich, die aktuelle Rechtsprechung im Blick zu behalten, denn der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann viel schneller erschüttert werden, als den meisten bewusst ist.
Mit seinem Urteil vom 6. Juli 2024 hat das LAG Niedersachsen den Beweiswert einer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert angesehen, da die Arbeitnehmerin während der attestierten Arbeitsunfähigkeit an einem Lehrgang der Landesturnschule teilgenommen hatte, nachdem ihr Urlaubsantrag für denselben Zeitraum abgelehnt worden war und bestätigte damit die erstinstanzliche festgestellte Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung.
Interessant sind dabei insbesondere die gerichtlichen Wertungen zur Darlegungs- und Beweislast. Zwar bleibt es dabei, dass Arbeitgeber grundsätzlich den Vollbeweis für das Vorliegen des Kündigungsgrundes tragen. Allerdings ist dem Umstand, dass das Nichtvorliegen einer Arbeitsunfähigkeit vom Arbeitgeber als Negativtatsache kaum dargelegt werden kann dadurch Rechnung zu tragen, dass Arbeitnehmer eine sekundäre Beweislast trifft und im Fall der Erschütterung des Beweiswertes vortragen müssen, welche weiteren Umstände für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit sprechen.
Üblicherweise wird der Beweis für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit durch Vorlage einer „ordnungsgemäß ausgestellten“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Allerdings können sich sowohl aus dem Sachvortrag des Arbeitnehmers als auch der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschütternde Tatsachen ergeben. Eine solche den Beweiswert erschütternde Tatsache kann seit der Entscheidung des BAG vom 8. September 2021 die passgenaue Krankschreibung für die Dauer der Kündigungsfrist sein. Im vorliegenden Fall ging das Gericht aufgrund der Tatsache, dass die Arbeitnehmerin für den fraglichen Zeitraum bereits zuvor Urlaub beantragt hatte und zum fraglichen Zeitraum an einem Lehrgang teilnehmen konnte, von einer Erschütterung des Beweiswertes der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus. Von der Arbeitnehmerin konnte kein über die Vorlage der Arbeitsunfähigkeit hinausgehender Vortrag zur Erfüllung der sekundären Beweislast geleistet werden, so dass das Gericht im Ergebnis von einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit ausging.
Das LAG Berlin-Brandenburg sah in seinem Urteil vom 5. Juli 2024 den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die ein Arbeitnehmer vorgelegt hatte gleich durch mehre Indizien als erschüttert an. Die beklagte Arbeitgeberin konnte daher im Wege der Widerklage die Rückzahlung der geleisteten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vom klagenden Arbeitnehmer verlangen.
Ein Indiz sah das Gericht in der der passgenauen Krankschreibung bis zum Ende der Kündigungsfrist. Es ist dabei unerheblich, ob es sich um eine Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberkündigung handelt. Erflogt die Krankschreibung unmittelbar nach der Kündigung und erstreckt sich der Zeitraum dann bis zum Ende der Kündigungsfrist, ist dies ein Indiz für die Erschütterung des Beweiswerts.
Ein weiteres Erschütterungsindiz lag nach Auffassung des Gerichts zudem darin, dass die Höchstdauer der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie überschritten wurde. Danach sollen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen längstens für einen Zeitraum von zwei Wochen ausgestellt werden, wohingegen im vorliegenden Fall eine Arbeitsunfähigkeit von 20 Tagen bescheinigt wurde.
Zudem sah das Gericht ein Erschütterungsindiz darin, dass der angeblich erkrankte Arbeitnehmer, während seiner Erkrankung, sowohl selbst aktiv als Spieler, als auch als Schiedsrichter an einem Handballspiel teilnahm.
Wegen der Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hätte der Arbeitnehmer zum Nachweis seiner Krankheit vortragen müssen, welche tatsächlichen physischen oder psychischen Gründe vorlagen, die ihn an der Erbringung seiner Arbeitsleitung hinderten. Kann der Arbeitnehmer einen entsprechenden Nachweis nicht erbringen, kann der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigern.
Der Blick in die aktuelle Rechtsprechung zeigt, dass auch die Gerichte in zunehmend mehr Fällen Zweifel an vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben. Für Arbeitgeber lohnt es sich daher den Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Frage zu stellen und eine Zahlung zu verweigern, wenn begründete Zweifel am Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit bestehen.
Interessant wird dabei zukünftig auch, wie sich die Frage des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit Blick auf die neuen digitalen Möglichkeiten weiterentwickelt. Insbesondere in Bezug auf das noch recht jungen Thema der Online-Krankschreibungen stellt sich schon jetzt die Frage, ob hier nicht ein geringerer Maßstab an die Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen angelegt werden muss, da es in diesen Fällen an einer persönlichen Untersuchung fehlt.
Der Beweiswert muss jedenfalls dann erschüttert sein, wenn nicht einmal ein Gespräch zur Untersuchung per Video stattgefunden hat. Aktuell gibt es eine Reihe von Anbietern, die eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur auf Grundlage eines Fragebogens ausstellen. Dies ist ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, der zu einer Erschütterung des Beweiswerts führen muss. Da die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie auch das Ausstellen einer Folgebescheinigung ohne persönliche Vorstellung ausschließt, müsst konsequenterweise auch die Aneinanderreihung von Erstbescheinigungen verschiedener Teleclinicen zu einer Erschütterung des Beweiswerts führen, schließlich könnte diese Vorschrift andernfalls durch einen einfachen Arztwechsel direkt umgangen werden.
Generell kann das gewerbsmäßige Ausstellen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen entgegen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie weder im Sinne des Gesetzgebers noch der Ärzte oder tatsächlich erkrankter Arbeitnehmer sein. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Arbeitgeber, sondern des Gesetzgebers einer missbräuchlichen Praxis, auch zum Schutz des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Einhalt zu gebieten. Solange das nicht erfolgt, stellt sich die Frage, ob es Arbeitgebern nicht gestattet sein muss, den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit per Teleclinic Bescheinigungen vertraglich auszuschließen.
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